Es gab bislang noch keine dritte Klasse, in der sich nicht mindestens eine Hand voll Schüler:innen darüber gefreut hat, dass es endlich mit dem schriftlichen Addieren losgeht. Häufig wurde diese Rechenstrategie schon weit vorab von den Eltern im besten Wissen und Gewissen beigebracht, dem Kind einen unkomplizierteren Weg an die Hand zu geben, als er mit diesem »umständlichen halbschriftlichen Rechnen« etwa 1 1/2 lange Jahre beigebracht wurde.

Ebenso gab es bislang noch keine Klasse, in der ich nicht mindestens ein Elterngespräch führte, in dem mir nahegelegt wurde doch endlich mit dem schriftlichen Rechnen zu beginnen, eben weil es doch viel einfacher sei.

Ich kann das Anliegen der Eltern und auch der Kinder vollkommen nachvollziehen einen einfachen und pragmatischen Weg zu kennen um zum korrekten Rechenergebnis zu kommen. Doch wie so oft gibt es immer zwei Seiten der Medaille, die ich in diesem Artikel gerne vorstellen möchte.

Was spricht für das schriftliche Rechnen?

Die, meiner Erfahrung nach, häufigsten Gründe für Eltern, ihrem Kind das schriftliche Rechnen schnellstmöglich beizubringen sind:

  • Sie haben es selbst so gelernt und geben somit einen vertrauten Rechenweg weiter.

  • Es lässt sich so schneller, einfacher und häufig auch fehlerfreier rechnen.

Abb. 1

Halbschriftlich vs. Schriftlich

Halbschriftliche Rechenaufgaben sind aufwändiger zu notieren und verlangen mehr Denkarbeit. Die kompakte schriftlich Schreibweise verspricht den bequemeren Zugang zur Lösung.

Gegenüberstellung der Rechenaufgabe 317 + 285. Einmal in halbschriftlicher und einmal in schriftlicher Form.

Diese beiden verständlichen Beweggründe lassen sich auch aus Lehrersicht sinnvoll ergänzen:

  • Abbau von Frust: Kinder, die sich mit dem Kopfrechnen bzw. dem halbschriftlichen Rechnen mühen, kommen zu motivierenden Erfolgserlebnissen.

  • Mit dem schriftlichen Rechnen lernen die Kinder, Algorithmen zu bilden. Kleine klar definierte Einzelschritte führen, wiederholt ausgeführt, zum Ziel. Diese Algorithmen sind ein zentrales Element der Mathematik.

  • Das schriftliche Rechnen kann das Verständnis von Stellenwerten und das Prinzip des Bündelns fördern und festigen.

Diese Auswahl an Vorteilen zeigt, dass es nicht per se verwerflich ist, schriftlich zu rechnen, respektive seinen Kindern diese Variante zu zeigen. Die Gründe sind plausibel und nachvollziehbar. Nicht unbegründet stehen diese Rechenverfahren fest verankert in den Lehrplänen - auch wenn die heutige Existenz von Taschenrechnern, Smartphones und Computern immer wieder kontroverse Diskussionen hervorruft.

Entscheidend ist allerdings der Zeitpunkt, zu dem diese Alternative zum Kopf- und halbschriftlichen Rechnen angeboten wird. Denn zuvor müssen mathematische Grundlagen geschaffen werden.

Argumente für eine behutsame Einführung

Zäumen wir einmal das Pferd von hinten auf und ersinnen uns einen fiktiven Mathematikunterricht, bei dem wir direkt ab Tag 1 in der ersten Klasse mit der schriftlichen Addition beginnen, um uns danach zur schriftlichen Subtraktion, Multiplikation und Division vorzuarbeiten. Woran würden wir scheitern? Schauen wir uns dazu erst einmal das Prinzip schriftlicher Addition und die darin abgefragten Kompetenzen an:

Prinzipien der schriftlichen Addition

Die Ziffern mehrerer Zahlen stehen, nach Stellenwerten getrennt (Einer, Zehner, Hunderter, …) untereinander und werden jeweils separat addiert. Je nach Anzahl der Summanden bewegt sich das Ergebnis in einem überschaubaren Zahlenraum, zu Beginn unter 10, dann bis 20 und schließlich vielleicht noch vereinzelt exemplarisch bis 30 oder 40. Größere Ergebnisse sind eher selten und für das Verständnis des schriftlichen Addierens nicht notwendig.

Abb. 2

Separates Addieren der Stellenwerte

Die Ziffern einzelner Stellenwerte müssen addiert werden. Das geschieht häufig im Zahlenraum des kleinen Einsplus eins bis 20.

Darstellung des Aufbaus einer schriftlichen Rechenaufgabe. Die Stellenwerte (Spalten) und die zu addierenden Ziffern sind hervorgehoben.

Übersteigt das Ergebnis einer Spalte die 10, so wird daraus ein nächst größeres Bündel erzeugt. Aus 10 Einern wird 1 Zehner, aus 10 Zehnern wird 1 Hunderter, etc. Diese erzeugten Bündel werden mit den, vielen bekannten, kleinen 1en, 2en, etc. in der nächst linken Spalte notiert um die Verschiebung von zehn Einheiten des kleineren Stellenwerts zum nächst größeren nachzuhalten.

Abb. 3

Bündeln

Zweistellige Ergebnisse werden zu Bündeln des nächst höheren Stellenwerts zusammengefasst. In diesem Beispiel werden aus 17 Einern 7 Einer und 1 Zehner. Letzterer wird durch die kleine blaue 1 in der mittleren Spalte der Zehner dargestellt.

Exemplarische Übersicht, wie eine Vielzahl Einer (17) in 7 Einer und 1 Zehner gebündelt werden.

Am Ende steht dann die fertige Zahl, die durch einen einfachen Algorithmus Schritt für Schritt berechnet wurde. Die Plausibilität des Ergebnisses kann erst schließlich anhand eines gefestigtes Zahlenverständnis per Überschlag verifiziert werden.

Man sieht also schon bei der Beschreibung: Da steckt viel mehr dahinter, als nur das Zusammenrechnen einzelner Ziffern zu einem Ergebnis. Wobei schon das in manchen Fällen ein Erfolg wäre. Nicht selten muss leider eher vom Zusammenzählen einzelner Ziffern gesprochen werden. Hierauf gehe ich später noch ein.

Voraussetzungen für gelingende schriftliche Addition

Gehen wir also Schritt für Schritt durch, woran ein Rechennovize scheitern würde, bzw. welche Kenntnisse er benötigt, um sinnvoll schriftlich addieren zu können:

  • Voraussetzung 1, Addieren: Um die einzelnen Ziffern eines Stellenwertes zu addieren, muss zumindest das kleine »Eins plus Eins« (Zwei Ziffern zwischen 0 und 10 werden addiert) sicher beherrscht werden. Das bedeutet, ich kann die Ergebnisse solcher Rechenaufgaben (5 + 8, 3 + 7, 8 + 9, etc.) zügig aus dem Kopf heraus beantworten. Die Rechengeschwindigkeit ist hier nicht unwichtig da sie das Arbeitsgedächtnis für weitere Anforderungen entlastet. Mit dem Abschluss der 1. Klasse ist diese Anforderung in der Regel erfüllt, so dass wir unsere fiktive Einführung der schriftlichen Addition getrost auf Anfang der zweiten Klasse verschieben können. (Siehe Abb. 2)

  • Voraussetzung 2, Bündeln und Stellenwerte: Die schriftliche Addition beruht auf dem Prinzip des Bündelns und der Stellenwerte. Übersteigt das zusammengerechnete Ergebnis einer Spalte die Zahl 10, 20, 30, usw., so werden 10er-Bündel daraus erstellt (z.B. 10 Einer → 1 Zehner) und in den nächst höheren Stellenwert verschoben. In der zweiten Klasse kommen die Bedeutung und das Prinzip der Stellenwerte erstmals richtig zum Tragen, da der Zahlenraum von 20 auf 100 erhöht wird und nun drei verschiedene Stellen (Einer, Zehner und Hunderter) vorhanden sind. Ebenso sind die Kinder erst jetzt in der Lage, Rechenaufgaben bis 100 zu lösen. Dies ermöglicht dann auch das schriftliche Berechnen von mehreren Summanden mit einem Ergebnis größer 20. (Siehe Abb. 3)

  • Voraussetzung 3, Gefestigtes Zahlen- und Mengenverständnis: Mit der schriftlichen Addition ändert sich die Art und Weise wie gerechnet wird. Anstatt mit Zahlen zu rechnen, die Aufschluss über ihr Verhältnis zueinander geben, betrachtet man bei der schriftlichen Addition nur voneinander isolierte einzelne Ziffern. Der Gesamtüberblick geht verloren. Ob ein Ergebnis realistisch ist, lässt sich durch ein grobes Überschlagen der Summanden selber ermitteln. Wer keine oder nur eine schwache Vorstellung vom Zahlenraum besitzt vergibt sich eine einfache Möglichkeit der Selbstkontrolle.

Und genau dieses Verständnis für den Zahlenraum und für Mengen wird behutsam mit dem halbschriftlichen Rechnen ab der zweiten Klasse bis zur Mitte der dritten Klasse aufgebaut, indem die Bedeutung der einzelnen Stellenwerte ausformuliert und Zahlen miteinander in Beziehung gebracht werden. Die Arbeit am Rechenstrich, Zahlenstrahl und am Hunderterfeld, die in der Regel parallel zum halbschriftlichen Rechnen erfolgt und der Visualisierung dient, hilft ebenso bei der Entwicklung der Zahlenvorstellung. All dies ist mit der schriftlichen Addition nicht möglich.

Hinweis: Auch wenn bislang nur von der schriftlichen Addition die Rede war, lassen sich die Gedanken problemlos auch auf die schriftliche Subtraktion, Multiplikation und Division übertragen. Bei letzteren beiden ist zudem noch die flüssige Beherrschung des kleinen Einmaleins eine notwendige Voraussetzung.

Gefahren des (frühen) schriftlichen Rechnens

Neben den bereits genannten Voraussetzungen, die ein Kind mitbringen sollte, möchte ich gerne noch zwei »Gefahren« nennen, die das (frühe) schriftliche Rechnen mit sich bringt:

  • Zählen statt Rechnen: Da nur noch einzelne Ziffern addiert werden, ist der zu bearbeitende Zahlenraum angenehm klein. Dies führt dazu, dass gerade Kinder die Mühe mit dem richtigen Rechnen haben, auf Abzählstrategien zurückgreifen. Anstatt zu rechnen 6 + 7 = 13, wird von der 6 ausgehend einfach weitergezählt: 6, 7, 8, … 13. Es findet kein Training des kleinen Einspluseins statt, Festigung und Automatisierung entfallen.

  • Schriftlich als Pauschallösung: Das Ziel des Mathematikunterrichts ist es, den Schüler:innen verschiedene Rechenwege an die Hand zu geben, die je nach Aufgabenstellung sinnvoll verwendet werden können. Mit dem Erlernen des schriftlichen Rechnens werden manche Kinder »betriebsblind«. Egal für welche Rechnung wird der schriftliche Rechenweg gewählt, obwohl eine andere Rechenart womöglich deutlich schneller wäre. Beispiel: 250 – 99, oder 698 + 4. Beide Rechnungen ließen sich mit einfachsten Rechenstrategien (z.B. 250 - 100 + 1 für die erste Aufabe) lösen. Dennoch vertrauen einige Kinder ihren bisherigen Fertigkeiten nicht mehr und wählen lieber die »sichere Variante« des schriftlichen Rechnens.

Eine Bitte an die Eltern

Ich habe mich in diesem Artikel bemüht ausführlich und nachvollziehbar zu erläutern, warum die Einführung des schrifltichen Rechnens, nach aktuellem Lehrplan, sinnvollerweise erst zur Mitte der dritten Klasse hin zu beginnen sollte und auch dann nicht frei von Tücke ist.

Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen. Es gibt Kinder, die bereits frühzeitig ein sehr gutes mathematisches Verständnis besitzen und denen ein früherer Umstieg nicht schaden würde. Dennoch ist es wichtig, bei der Einführung des schriftlichen Rechnens Verbindungen zum halbschriftlichen Rechnen herzustellen, um ein "verständiges" Ausführen der Algorithmen zu erlauben und ein mechanisches, auswendiges Abarbeiten von Schemata zu verhindern.

Mein persönliches Anliegen an alle Eltern: Bitte bringen Sie Ihrem Kind nicht eigenmächtig das schriftliche Rechnen zu einem früheren Zeitpunkt bei, als es der Lehrplan vorsieht. Halten Sie Rücksprache mit der Lehrperson um gemeinsam zu überlegen, wie Ihr Kind bestmöglich gefordert und gefördert werden kann.

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