Beim Lernen neuer Vokabeln, beim Kopfrechnen, beim Merken von Arbeitsaufträgen - kurz, bei allen (schulischen)Tätigkeiten, bei denen wir eine Information für mehr als einen kurzen Moment behalten sollen oder wollen, sind wir auf unser Gedächtnis angewiesen.

Ganz besonders das Arbeitsgedächtnis spielt einen entscheidenden Anteil dabei, Neues nachhaltig zu speichern und ins Langzeitgedächtnis zu übernehmen. Zudem beeinflusst es auch, ob wir eher mittels Bildern (also visuell) oder anhand von Ton (auditiv) lernen können.

In diesem Artikel möchte ich gerne knappe Einblicke in verschiedene Theorien der Gedächtnispsychologie geben. Mit dem erworbenen Wissen sollen Eltern, aber auch Lehrpersonen, besser verstehen, warum Kinder biologisch bedingt mehr oder weniger schnell "aufnahmeunfähig" werden und welche Stellschrauben es gibt, um Unterstützung zu bieten.

Mehrspeicheransätze

Ende der 60er-Jahre beeinflussten Atkinson und Shiffrin die Gehirnforschungen mit ihrem Mehrspeichermodell nachhaltig. Sie unterteilten das Gedächtnis in verschiedene Systeme, welche die von einem Menschen aufgenommene Information (Reize) verarbeiten und am Ende dauerhaft im Langzeitgedächtnis verfügbar machen.

In einem ersten Schritt werden, abhängig von der Art des Sinneseindrucks (auditiv, visuell, taktil, olfaktorisch, gustatorisch), unterschiedliche Ultrakurzzeitspeicher im sensorischen Gedächtnis durchlaufen. Diese verfügen zwar über eine große Kapazität, können die aufgenommenen Informationen jedoch nur für einen sehr kurzen Zeitraum, im Bereich von Millisekunden bis hin zu einigen Sekunden, verfügbar halten. Dies passiert vor allem dann, wenn die Sinneseindrücke nicht weiter beachtet werden.

Erst durch die bewusste Auseinandersetzung mit ihnen gelangen die Informationen in das Arbeitsgedächtnis (Kurzzeitgedächtnis), wo sie für etwa 20 Sekunden gespeichert werden können. Mittels kognitiver Strategien, wie dem Memorieren oder der Vernetzung mit bereits bestehendem Wissen, erfolgt eine Ablage im Langzeitgedächtnis, wo die Informationen schliesslich für immer verbleiben. In diesem letzten System ist die Herausforderung für das Gehirn nicht mehr das Speichern, sondern das Verfügbar machen der Daten.1

Ein häufiger Kritikpunkt an dem Modell von Atkinson und Shiffrin war die zu undifferenzierte Betrachtungsweise des Arbeits- und Langzeitgedächtnisses. Für ausschlaggebende Impulse in der Forschung sorgten hier A. Baddeley, in Form der Theorie des Arbeitsgedächtnisses, als auch E. Tulving mit seiner Differenzierung des Langzeitgedächtnisses in mehrere Komponenten.2

Das Arbeitsgedächtnis

Abb. 1

Wissenstransfer

Das Arbeitsgedächtnis hilft dabei, aus dem Ultrakurzzeitspeicher erhaltene Informationen in das Langzeitgedächtnis zu übertragen.

Kopf eines Mädchens. Am Kopf und davor mehrere digital gestaltete Gehirne als leuchtende Linien.

Nachdem Informationen vom Ultrakurzzeitspeicher in das Arbeitsgedächtnis übergegangen sind, werden sie dort weiterverarbeitet und teilweise in das Langzeitgedächtnis übertragen. Zur Verarbeitung greift das Arbeitsgedächtnis nach Baddeley auf drei Substrukturen zurück:3

  1. Die artikulatorische/phonologische Schleife, in der Literatur auch häufig als auditiver Kanal bezeichnet. Dieser ist verantwortlich für die Verarbeitung verbaler und auditiver Informationen.

  2. Der visuell-räumliche Notizblock, auch als visueller Kanal bezeichnet, in dem bildliche Informationen durchlaufen werden.

  3. Die zentrale Exekutive, die die ungefilterten Informationen für kurze Zeit speichert und sie der jeweils passenden visuellen oder auditiven Substruktur zuordnet. Zudem zeichnet sie sich verantwortlich dafür, memorierte Informationen aus dem Arbeitsgedächtnis in das Langzeitgedächtnis zu überführen.

Diese Weiterführung in das Langzeitgedächtnis ist, neben der dauerhaften Verfügbarkeit der Informationen, auch deswegen wichtig, weil dadurch neue Kapazitäten im Arbeitsgedächtnis geschaffen werden. In diesem können nur einige wenige neue Inhalte, nämlich 7 plus oder minus 2 Informationseinheiten, gleichzeitig verarbeitet werden. Um dabei eine grösstmögliche Effizienz zu erreichen, werden so genannte „Chunks“ gebildet, das heisst Informationseinheiten werden zu Blöcken zusammengefasst, die jeweils als eine Einheit gehandhabt werden. Am Beispiel einer Telefonnummer lässt sich dies gut demonstrieren: Anstatt sich die Zahlen 0-7-9-3-4-5-2-1-4 einzeln zu merken, werden diese in drei Chunks zusammengefasst: 079 – 345 – 214.4

Cognitive Load Theory (CLT)

John Sweller und Paul Chandler nahmen Anfang der 90er Jahre eine weitere explizite Betrachtung des Arbeitsgedächtnisses vor. Ausgehend von dessen begrenzter Kapazität untersuchen sie in ihrer Instruktionsdesigntheorie, welche Formen von Belastung sich negativ auf die Gedächtnisleistung auswirken und geben Empfehlungen zur lernförderlichen Umgebung von Lernmaterialien. Die Autoren stellen drei Typen von Belastungen fest, die sich gegenseitig addieren:5

  • Intrinsic Cognitive Overload: Die Belastung des Arbeitsgedächtnisses erfolgt einerseits aufgrund der Aufgabenschwierigkeit, ihrer Komplexität und ihrem Umfang und andererseits auf der Basis des bereits vorhandenen Vorwissen eines Lernenden.

  • Extraneous Cognitive Overload: Die Gestaltung des Lernmaterials nimmt direkten Einfluss auf das Arbeitsgedächtnis. Eine schlechte Strukturierung, Benutzerführung oder unklare Präsentation der Inhalte zwingt den Benutzer zu kognitiven Anstrengungen, um die für das Lernen tatsächlich relevanten Inhalte zu filtern.

  • Germane Cognitive Load: Die freien Ressourcen im Arbeitsgedächtnis, die nach „Abzug“ des Intrinsic und Extraneous Cognitive Load für den eigentlichen Wissenserwerb vorhanden sind.

Auch die verschiedenen Kanäle im Arbeitsgedächtnis betrachten Sweller und Chandler genauer. Während im Mehrspeicheransatz von Attkinson und Shiffrin von einer allgemeinen begrenzten Kapazität ausgegangen wird, differenziert die Cognitive Load Theory nach Belastungen des visuellen und des auditiven Kanals.

Sobald einer dieser Kanäle gefüllt ist, wird der gesamte Wissenserwerb behindert.6

Um an dieser Stelle zu unterstützen können ich Lehrpersonen bzw. Eltern beispielsweise für eine Umgebung sorgen, die insbesondere hinsichtlich Geräuschen oder aber visueller Ablenkung möglichst reizarm ist.

Kindliche Hirnentwicklung und Schule

Abb. 2

Lernfrust

Nicht immer möchte das Gelernte auch im Kopf bleiben. Mit zunehmendem Alter erhöht sich die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses.

Auf einem Stuhl sitzendes frustriertes Mädchen in einem lila Pullover.

Mittlerweile ist gut belegt, dass die Funktionstüchtigkeit der verschiedenen Arbeitsgedächtnis-Subsysteme als wichtige Determinante und auch als Prädikator für schulische Leistungen gelten. Bereits in jungen Kindesjahren kommt es zu einer Ausdifferenzierung erster Funktionen. So hat sich die mehrgliedrige Struktur etwa ab dem 5. Lebensjahr vollständig ausgebildet und scheint über die Lebensspanne hinweg weitgehend invariant zu sein.7

Nach Crone entwickelt sich, auf  Basis dieser Strukturen, die Leistungsfähigkeit des kindlichen Gedächtnisses bis hin zur Adoleszenz.8 Je älter ein Kind ist, so Lohaus und Vierhaus, desto effektiver wird sein Arbeitsgedächtnis. So kann auf eine umfangreichere Informationsbasis im Langzeitgedächtnis zurückgreifen, um Verknüpfungen zwischen bestehenden und neuen Informationen zu schaffen und somit einen schnelleren Transport aus dem Arbeitsgedächtnis heraus ermöglichen. Zusätzlich verbessert sich die Fähigkeit zur Chunk-Bildung, was ebenfalls eine effektivere Kapazitätsnutzung erlaubt.9

Bei der Einschulung ist ein Kind lediglich in der Lage, drei bis vier visuelle oder auditive Einheiten gleichzeitig zu speichern. Beachtenswert ist dabei, dass Schulanfängerinnen und Schulanfänger zu Beginn ihrer Schulzeit besser mit bildhaften Informationen umgehen können, da sich der visuelle Kanal bereits im Kleinkind- und Vorschulalter entwickelt. Der Entwicklungsschwerpunkt des auditiven Kanals liegt erst während der Primarschulzeit. Bis hin zur Adoleszenz wächst der Wert der Chunkbildung auf sieben plus minus zwei Einheiten.10

Quellenangaben

Querverweise

  • (1) vgl. Bredenkamp 2014; Lohaus/Vierhaus 2015: 31

  • (2) vgl. Bredenkamp 2014

  • (3) vgl. Seitz 2014: 180; Lohaus/Vierhaus 2015: 31

  • (4) vgl. Niegeman et al. 2008: 43

  • (5) vgl. Niegeman et al. 2008: 44f.; Scheiter 2014: 343

  • (6) vgl. Niegemann et al. 2008: 53

  • (7) vgl. Schuchardt/Mähler 2014: 180

  • (8) vgl. Crone 2011: Kapitel: Das Arbeitsgedächtnis – Aus den Augen, aus dem Sinn

  • (9) vgl. Lohaus/Vierhaus 2015: 35

  • (10) vgl. Schuchardt/Mähler 2014: 180

Literaturangaben

  • Bredenkamp, J. (2014). Gedächtnis. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie (17. Aufl., S. 630). Bern: Verlag Hans Huber.Brüggemann, Marion (2016). Aspekte medienbezogener Schulentwicklung bei der Einführung von Tablets In: Merz medien + erziehung 1/2016. S. 26 – 32.

  • Crone, E. (2011). Das pubertierende Gehirn (4. Edition). München: Droemer HC

  • Lohaus, Arnold; Vierhaus, Marc (2015). Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor. Berlin: Springer Verlag.

  • Niegemann,Helmut et al. (2008). Kompendium multimediales Lernen. Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag.

  • Seitz, D. (2014). Arbeitsgedächtnis. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie (17. Aufl., S. 180). Bern: Verlag Hans Huber.

  • Schuchardt, K.; Mähler, C. (2014). Arbeitsgedächtnis im Kindesalter. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie (17. Aufl., S. 180). Bern: Verlag Hans Huber.

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